Das Wesen der Dinge
Lässt sich der individuelle Wert von Objekten gestalten?
Wie viel ist Dir Dein Auto wert? Was bedeutet Dir Deine Lieblingstasse? Und was die geerbte Taschenuhr? Wert ist etwas äußerst Subjektives. Wie viel davon wir Dingen beimessen, hängt einerseits von unseren Bedürfnissen und andererseits vom Kontext ab. Oft haben wir als Gestalter:innen keines von beidem in der Hand. Jedoch sollten wir unbedingt der Frage nachspüren, wie wir entscheidende Bedürfnisse aufdecken, den Kontext verstehen und den Wert entsprechend gestalten können.
»Das Wesen der Dinge hat die Angewohnheit, sich zu verbergen.«
Heraklit von Ephesos
Leichter gesagt als getan, da oft vielschichtige Zusammenhänge im Raum schweben. Individuelle Erfahrungen, Konditionierungen, kulturelle Aspekte, soziale Hintergründe, psychologische Faktoren oder der Wunsch nach Sicherheit sind nur ein Teil des Spektrums. Doch im Verstehen und Strukturieren dieses Geflechts liegt der Schlüssel, um das adäquate Wesen von Dingen zu gestalten.
Grundlegende Charakterzüge
Und wo wir schon beim Wesen sind, so ist ein jedes Produkt per se schon mit typischen Eigenschaften vorbelastet. Hier ist das Geflecht von jeweiligen Charakterzügen gemeint, welches jedem Gegenstand innewohnt. Geht es beispielsweise um die Typik einer Bohrmaschine, birgt das andere Gestaltungsanforderungen, als die eines Schnullers für Kleinkinder.
Kontext- und funktionsbedingte Erwartungen an das Produkt kommen also on top. Im Regelfall wird das noch vom Charakter der dahinterstehenden Marke und natürlich den Nutzer:innen-Bedürfnissen gekrönt. Viel Spaß beim Zurechtfinden.
Die Bedürfnispyramide
Doch um jetzt das hissen der weißen Fahnen (aufgrund von Überforderung) zu minimieren, will erwähnt sein, dass Bedürfnisse nicht gleich Bedürfnisse sind. Spätestens seit Maslow wird versucht, Gewichtungen zu schaffen. In seinen Studien hat Abraham Maslow anfangs ein fünfstufiges Modell, bestehend aus vier essenziellen Bedürfnissen und einem krönenden Wachstumsbedürfnis entwickelt. Auch als Maslowsche Bedüfnispyramide bekannt, bauen die einzelnen Stufen dabei hierarchisch aufeinander auf.
In den 1970er-Jahren wurde das fünfstufige auf ein achtstufiges Modell erweitert. Dabei bilden physiologische Bedürfnisse die Basis, gefolgt von Sicherheits- und sozialen Bedürfnissen (Anschlussmotiv). In der Mitte finden sich die Individualbedürfnisse, kognitive- sowie auch ästhetische Bedürfnisse. An der Spitze Selbstverwirklichung und Transzendenz. Ziehen wir dieses Modell als Orientierung für Gestaltung zurate, wird klar, wie fundamental psychologische, sicherheits- und soziale Bedürfnisse sind. Dass kognitive Faktoren (Features, technische Funktionalität ...) dabei nicht die erste Geige spielen mag aufs erste Hören sicherlich verwundern.
Emotion sticht Vernunft
Ob etwas als wertvoll oder nützlich wahrgenommen wird, muss also nicht zwangsläufig mit technischer Funktionalität einhergehen. Emotional treffsichere Gestaltung fordert Menschen zur Auseinandersetzung auf. Im richtigen Kontext animiert sie zur Benutzung, gibt das Handling vor, fordert Gesten heraus und ist auf der Gefühlsebene lesbar. Und gerade Letzteres zeigt die emotionale Kraft von Gestaltung am deutlichsten. Sobald Gestaltung unsere Erwartungen im jeweiligen Kontext erfüllt, unser Unterbewusstsein anspricht und Beziehung herstellt, entstehen identitätsstiftende Objekte. Die Vernunftsorientierung wird von unseren Emotionen verdrängt.
»Die Vernunft formt den Menschen, das Gefühl leitet ihn.«
Jean-Jacques Rousseau
Mit eintretender Gefühlsorientierung bildet sich eine Beziehung und wir messen dem Objekt einen Wert bei. Das hat weitreichende Konsequenzen auf Wahrnehmung und Verhalten. An diesem Punkt beginnen wir den Charakter des Gegenstand zu begreifen, schreiben ihm menschliche Eigenschaften zu, passen unseren Umgang damit an, entwickeln und zeigen Gefühle. In Ausnahmefällen reicht das bis zur Objektophilie. Eine Mensch-Objekt-Beziehung, die den Gegenstand als eigenständiges Gegenüber mit suchtartiger Anziehung klassifiziert.
Wenn Sie jetzt denken, dass Dir so was nicht passieren kann, möchte ich an das erste Kuscheltier oder das Verhältnis der Deutschen zu ihren Autos erinnern.
Schier unvorstellbar, wie viel Liebe so ein lebloser Blechkubus erfährt, oder? Emotionsgefilde zwischen Individualität, Vertrauen, Sicherheit, Behagen, Freude, Status oder Macht, um nur einige zu nennen. Klar gibt es Ausnahmen, doch Kosenamen und »bitte nur Handwäsche« zeugen von tiefen emotionalen Bindungen - und vielleicht auch Ängsten.
Die Kraft des Kontexts
Wie jede Beziehung kann auch die zum Automobil nur in entsprechenden Abhängigkeiten funktionieren. Dass sich die Kontexte im Laufe unseres Lebens wandeln, zeigt sich gut am Beispiel des Kuscheltiers. Für viele unter uns ebenfalls eine einst innige Verbindung, doch schon fünf oder zehn Jahre später als pubertierender Teenager ist von den damals warmen Gefühlen im besten Fall noch eine blasse Erinnerung übrig. Die einst spürbare Intensität ist anderen Bedürfnissen und einem neuen Kontext gewichen. Auch wenn es sich um denselben Gegenstand in unveränderter Form handelt.
Das Beispiel ist beliebig übertragbar und wird spätestens beim Ausmisten des Kleiderschranks, dem Verkauf vom damaligen Traum-Auto oder der Sticker-Sammlung deutlich.
Doch auch wenn alles seine Zeit hat, ändert das wenig an unseren Möglichkeiten. Als Kreative haben wir es sprichwörtlich in der Hand den Dingen Charakter zu verleihen und Beziehungen zu gestalten. Um die Dinge für sich sprechen zu lassen, sollten wir vor allem eins ergründen: das tiefe Verständnis für Kontext, Nutzer-Bedürfnisse und Produkt-Charakter.